Februar 2008:

„Nach dieser Reform stehen wir vor der Reform“

ver.di-Gesundheitspolitiker pochen auf mehr Pflegequalität und Transparenz

Berlin – Die Reform der Pflegeversicherung ist ein erster Schritt in die richtige Richtung – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Chancen sieht ver.di durch verbesserte Leistungen und kompetente Beratung. Der große Mangel: Die Reform versäumt es, die Finanzierung der Pflegeversicherung auf stabile Füße zu stellen. Ohne eine langfristig gesicherte Finanzierung sei es zum Beispiel nicht möglich, die Leistungen an einen automatischen Inflationsausgleich zu koppeln, sagt der Leiter der ver.di-Gesundheitspolitik, Herbert Weisbrod-Frey. Gabriele Feld-Fritz, bei ver.di zuständig für die Pflege, kritisiert, dass der Bund die Entscheidung über die notwendige Zahl und Qualifikation der Pflegekräfte in den Pflegeeinrichtungen den Pflegesatzparteien (Pflegekassen, Sozialhilfeträger und Einrichtungsträgern) überlassen will. Es bestehe die Gefahr einer Personalbemessung nach Kassenlage. Die Leidtragenden seien die Pflegebedürftigen und die Beschäftigen.

Wie zufrieden sind die Gesundheitspolitiker bei ver.di mit der Pflegereform?

Weisbrod-Frey: Die Reform ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Reform war überfällig. Aber bei der Konstellation Große Koalition war mehr nicht drin. Bei der Finanzierung waren die Gegensätze zwischen SPD auf der einen und CDU/CSU auf der anderen Seite unüberwindbar. Deshalb ist die langfristige Finanzierung der Pflegeversicherung auch nach wie vor unbefriedigend – auch wenn mit der Erhöhung der Beitragsätze etwas mehr Geld ins System kommt. Gerade bei der Finanzierung der Pflegeversicherung wäre ein großer Schritt nötig gewesen.

Feld-Fritz: Weil die Finanzierung nicht angepackt wurde, stehen wir nach dieser Reform vor einer neuen Reform. Das macht mir Bauchgrimmen. Denn die Pflegeversicherung krankt daran, dass sie eben nicht auf soliden finanziellen Füßen steht. Es wird deshalb weiterhin nur darum gehen, die Kosten zu begrenzen. Das kann gefährliche Folgen haben. Ein Beispiel: Die Preise einer Pflegeeinrichtung sollen künftig nur noch über Betriebsvergleiche festgelegt werden. Leider geht es dabei nicht um einen Vergleich des Pflegeaufwandes und der Qualität der Pflegeleistungen. In den Datenspeichern der Pflegekassen sind Kostenblöcke erfasst. Und diese werden verglichen. Als Richtwert wird das Altenpflegeheim der Region herangezogen, das die niedrigsten Kosten hat. Dies trifft vor allem die Beschäftigten hart. Denn ein Heimbetreiber, der Niedrigstlöhne zahlt, wird zum Maßstab. Träger, die den Beschäftigten Tariflöhne zahlen, werden abgesenkt.

Die Architekten der Pflegereform nehmen offenbar in Kauf, dass mit dieser Art des Betriebsvergleichs Lohndumping in der Pflege beschleunigt wird. So sollen bei der Zulassung von Pflegeeinrichtungen ortsübliche Vergütungen der Beschäftigten Voraussetzung sein. Generell ist gegen einen solchen Ansatz nichts einzuwenden. Es wird aber nur dann ein Schuh daraus, wenn der der TVöD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst) die Leitwährung ist. Löhne auf der Basis des TVöD müssen dann die Rechengröße bei den Tagessatz-Verhandlungen sein.

Was wäre in Sachen Finanzierung nötig gewesen?

Weisbrod-Frey: Es liegt auf der Hand, dass mehr Geld gebraucht wird, wenn verschiedene Punkte umgesetzt werden sollten – wie die dynamisierten Leistungen. Derzeit werden die Leistungen nicht automatisch an die Inflation angepasst. Das trifft die Pflegebedürftigen und deren Angehörige. Wenn ihnen das Geld ausgeht, müssen sie – aufgrund der fehlenden Dynamisierung - auf Leistungen verzichten. Um solche Pläne zu verwirklichen, hätten wir die Bürgerversicherung bei der Pflege gebraucht, also mehr Solidarität. Das aber ist am Widerstand der CDU/CSU gescheitert. Außerdem gibt es keinen Ausgleich zwischen der privaten und der gesetzlichen Pflegeversicherung.

Dieser wäre dringend nötig gewesen, denn jeder weiß, dass die Pflegekosten überproportional bei den gesetzlich Versicherten anfallen. Die private Pflegeversicherung freut sich über Überschüsse und der gesetzlichen fehlt permanent Geld. Das aber hat nichts mit besserem oder schlechterem Wirtschaften zu tun. Sondern mit den Versicherten: Vor allem Arme werden pflegebedürftig, die gesetzliche Pflegeversicherung trägt deshalb das viel höhere Risiko.  Deshalb hätte es dringend einen Ausgleich gebraucht. Allerdings können nun auch ältere Privat-Versicherte die Versicherung wechseln. Dadurch wird ein kleiner Ausgleich geschaffen, der für ein wenig Wettbewerb sorgt – aber nur innerhalb des Systems.

Was wollte ver.di bei der Pflegereform durchsetzen?

Weisbrod-Frey: ver.di ging es zunächst darum, den Pflegebegriff zu erweitern. Pflegen ist eben nicht nur waschen, Essen geben und medizinisch versorgen. Pflege muss sich an der Würde der Menschen orientieren. Auch pflegebedürftige Menschen müssen teilhaben können am gesellschaftlichen Leben.

Zudem wollte ver.di, dass die Pflegeleistung an die Inflationsentwicklung gekoppelt wird. Denn ohne diese automatische Anpassung kürzt die Inflation den Zuschuss, den Pflegebedürftige und ihre Angehörigen trotz einer Erhöhung der Leistungen bekommen, schon nach kurzer Zeit. ver.di dringt auch darauf, dass es eben nicht nur die Wahl zwischen ambulanter Hilfe und Heim gibt. Wir brauchen viele Möglichkeiten dazwischen, um dem Bedarf gerecht zu werden. Einen ersten Schritt in dieser Richtung können die geplanten Pflegestützpunkte mit der dringend nötigen Beratung für Pflegebedürftige und ihren Angehörigen darstellen. Vorausgesetzt, die Regelungen, die bisher zu den Pflegestützpunkten geplant sind, werden nicht weiter verwässert.

Pflegestützpunkte gibt es bereits.

Weisbrod-Frey: Vor allem die Freien Wohlfahrtsorganisationen beraten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, das ist richtig. Aber die Beratung bezieht sich vor allem auf die Angebote der einzelnen Organisationen. ver.di geht es um die unabhängige Produktberatung. Das ist das A und O. Denn in der Regel braucht es schnelle Hilfe, wenn jemand pflegebedürftig wird. Deshalb muss über alle Angebote beraten werden können, die es in einer bestimmten Region gibt, gleichgültig wer sie anbietet. Es geht darum, sich aus dem gesamten Spektrum von unterschiedlichen Anbietern das herauszusuchen, was der Betreffende individuell braucht. Dieses Angebot muss es flächendeckend geben. Derzeit können Pflegebedürftige in den Städten in der Regel bereits auf ein stattliches Beratungsangebot zurückgreifen. Auf dem Land dagegen suchen viele lange nach einer entsprechenden Beratung. ver.di geht davon aus, dass - als Folge der Pflegestützpunkte und der besseren Beratung - die Pflege besser auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen abgestimmt ist. Und das spart Kosten – den Pflegebedürftigen beziehungsweise ihren Angehörigen.

Die Trägerorganisationen der Pflegeeinrichtungen haben natürlich ein Interesse daran, selbst zu beraten. Es liegt nahe, dass die Organisationen auf ihr Angebot hin beraten. Das ist aus deren Sicht auch verständlich. Aber im Interesse der Pflegebedürftigen ist es nicht. Für ver.di muss die Beratung unabhängig sein.  Denn Pflege ist auch ein großes Geschäft, hier geht es um viel Geld - nämlich Jahr für Jahr um einen zweistelligen Milliardenbetrag. Keiner will von dem Kuchenstück, das er sich erarbeitet hat, etwas abgeben – weder die Trägerorganisationen noch die Privaten oder die kirchlichen Einrichtungen. Pflegestützpunkte, die über alle Angebote beraten, schaffen Transparenz, und diese wiederum wird die Leistung verbessern. Gute Pflegeeinrichtungen können dabei nur gewinnen. Das bin ich mir ganz sicher. Auch die Trägerorganisationen würden letztendlich  profitieren, wenn sie das Konzept der Pflegestützpunkte unterstützen und mit ihnen kooperieren.

Stichwort Transparenz. Wird die Kontrolle der Heime verbessert?

Weisbrod-Frey: Die Heime kommen ja immer wieder in die Schlagzeilen. Aber Untersuchungen haben gezeigt, dass auch die ambulante Pflege deutlich verbessert werden muss. Mit der Reform ist nun geregelt, dass die Einrichtungen häufiger kontrolliert werden. Bisher kamen die Kontrolleure alle fünf Jahre, nun stehen sie alle drei Jahre auf den Stationen. Außerdem werden die Pflegekassen künftig in der Lage sein, gute Pflegequalität besser zu honorieren.

Feld-Fritz: Bei der Transparenz muss ich noch mal auf die Vergütung der Beschäftigten zurück kommen. Den Preis eines Pflegeheimplatzes verhandeln Pflegekassen, Sozialhilfeträger und die Einrichtungsträger. Die Rechnung erhält der Pflegebedürftige – er zahlt, abzüglich des Zuschusses aus der Pflegeversicherung. Es muss deshalb auch transparent sein, ob so viele qualifizierte Pflegekräfte mit Tariflöhnen in der Einrichtung arbeiten wie dem Pflegesatz zugrunde liegen. Eine Möglichkeit, Qualitätsstandards festzulegen, besteht in einer bundesweit gültigen Personalbemessung und einer Vergütung, die auf einem bundesweit geltenden Tarifvertrag – eben dem TVöD – beruht. Nur so können die Verbraucher sicher sein, dass ein transparenter Betrag aus ihrem Pflegesatz tatsächlich denen zugute kommt, die tagein, tagaus pflegen. Pflegebedürftige und Angehörige haben selten Verständnis dafür, wenn die Heimträger den Gewinn steigern indem sie Billiglöhne zahlen.

Die Beschäftigten klagen über zu wenig Personal, aber Einrichtungen machen Gewinn. Werden die Einrichtungen in Zukunft weiter vor allem beim Personal sparen?

Feld-Fritz:  Lohndumping ist das eine. Krankmachende Arbeitsbedingungen, wie extreme Arbeitsverdichtung, Arbeitshetze, Überforderung das andere. Auch das geht zu Lasten der Pflegebedürftigen, denn Pflegefehler und unwürdige Situationen für Pflegebedürftige sind die Folge. Solange es aber keine bundesweit gültigen Tarifverträge und keine bundesweit gültigen Regelungen gibt, die festlegen, wie viele Pflegekräfte je nach Pflegebedarf eingesetzt werden und welche Ausbildung sie haben müssen – so lange können die Einrichtungen auf Kosten des Personals sparen.

Wird die Politik Vorgaben machen, wie die Pflegeheime mit Pflegekräften ausgestattet sein müssen?

Weisbrod-Frey: Der Bund hält sich raus und lässt die Personalbemessung weiter bei den Ländern. Das ist auch eine Folge der Föderalismusreform. Derzeit gelten von Bundesland zu Bundesland andere Regelungen, als ob im Süden Deutschlands mehr Fachpersonal gebraucht würde als im Norden oder umgekehrt. Außerdem haben sich die Länder grob darüber verständigt, dass sie keine Sanktionen auferlegen wollen, wenn generell weniger und auch weniger ausgebildetes Personal in den Heimen arbeitet, als in der Personalbemessung vorgesehen. ver.di bedauert es, dass es keine bundeseinheitliche Regelung gibt. Denn Pflegequalität kann nur erbracht werden, wenn es genügend Personal auf den Pflegestationen gibt – und zwar gut ausgebildetes Personal.

Pflegekräfte sind ausgebrannt, viele qualifizierte Kräfte verlassen schnell wieder das Metier. Sind die Weichen richtig gestellt, damit auch diese Situation sich ändert?

Feld-Fritz: Gerade engagierte Pflegekräfte verzweifeln am Alltag. Sie haben hohe Ansprüche an ihre Pflegearbeit und sehen, dass sie diesen Ansprüchen nicht gerecht werden können. Schuld daran sind nicht die Pflegekräfte, sondern die Umstände. Eine Pflege im Minutentakt ist selten befriedigend – das lässt sich leicht nachvollziehen. Arbeitszufriedenheit steht in direktem Zusammenhang mit der erreichbaren Pflegequalität. Gute Pflegequalität wiederum ist eng verbunden mit dem Personalschlüssel. Wenn die Pflegekräfte ständig unterbesetzt sind, wenn sie nie Zeit haben für das, was für sie Pflege ausmacht, können sie nicht zufrieden mit ihrer Arbeit sein. Pflege ist mehr als Medikamente geben, waschen, betten. Pflege ist auch Zuwendung – Zeit haben, Pflegebedürftigen ein Leben in Würde zu ermöglichen.  Wer mit seiner Arbeit nicht zufrieden ist, wird häufiger krank und lässt den Beruf schnell hinter sich. Beides kostet die Gesellschaft viel Geld. Eigentlich können wir uns das nicht leisten. Und wir brauchen in Zukunft mehr gute ausgebildete und engagierte Menschen, die bereit sind, in der Pflege zu arbeiten.

Weisbrod-Frey: Wenn mehr Geld ins System kommt, dann muss es unten ankommen – nämlich bei den Beschäftigen. In Form von höheren Löhnen und in Form von mehr Personal. Damit kommt das Geld auch den Pflegebedürftigen zugute. Wenn mehr Geld letztendlich nur dazu führt, dass die Gewinne der Einrichtungen steigen, dann haben wir, dann hat die Politik versagt. Es darf sich nicht lohnen auf Kosten der Beschäftigten und der Pflegebedürftigen Gewinne zu machen Der Gewinne wegen sollen sie den Gürtel enger schnallen. Der Gewinne wegen bekommen sie immer wieder gesagt, es sei kein Geld da, sie müssten sparen. Im Interesse der Beschäftigten, der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen müssen wir dafür sorgen, dass Pflege verbessert wird – die stationäre und die ambulante. Transparenz, realistische Personalschlüssel und Tariflöhne sind die Wege dazu.

Interview: Jana Bender, freie Journalistin Stuttgart

Quelle: https://gesundheitspolitik.verdi.de/