Chemische Gewalt: Wenn Pillen die Pflege ersetzen

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Studie der Universität Bremen
Demenzerkrankte bekommen oft die falsche Medizin

von Timo Thalmann 19.11.2020

Der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske kritisiert die Fehlversorgung von Patienten mit Demenz. Statt eine aktivierende Pflege zu erhalten, würden sie zu häufig mit Neuroleptika ruhiggestelt.

Patienten mit Demenzerkrankungen werden auffallend häufig Psychopharmaka verabreicht, obwohl diese Medikamente bei Menschen mit Alzheimerdemenz mehr schaden als nutzen. Das ist das Ergebnis des aktuellen Demenzreports der Universität Bremen unter der Leitung des Arzneimittelexperten Gerd Glaeske. Der Pharmazeut hat dazu Versichertendaten der Bremer Handelskrankenkasse (HKK) ausgewertet.

Danach bekamen etwa ein Drittel der Betroffenen zwischen 2017 und 2019 dauerhaft Wirkstoffe wie Risperidon oder Haldol verabreicht, die üblicherweise bei Schizophrenie und Psychosen angewendet werden. Diese Medikamente dämpfen den Patienten, er wird ruhiggestellt. Spezielle Antidementiva, die das Fortschreiten der Demenzerkrankenung verzögern können, erhielten dagegen nur gut 20 Prozent der Patienten. Besonders in der stationären Pflege werden Psychopharmaka eingesetzt. Fast jeder zweite Betroffene erhält Neuroleptika. „Das würde ich schon fast als chemische Gewalt gegenüber den Erkrankten bezeichnen“, sagte Glaeske bei der Vorstellung des Berichts. Seit 20 Jahren seien die damit einhergehenden höheren Risiken bekannt, zum Beispiel einen Schlaganfall zu erleiden.

Der Befund, das Demenzkranke zu häufig mit Neuroleptika behandelt werden, stützt sich ausschließlich auf Daten der Handelskrankenkasse, die hauptsächlich aus Bremen und Niedersachsen stammen. Glaeske hält die Ergebnisse jedoch für allgemein übertragbar. „Der Befund ist tragisch, aber nicht überraschend, denn auch Studien mit Daten aus anderen Regionen zeigen dieses Bild.“ Die Situation und das Verordnungsverhalten der Ärzte seien in Bremen nicht auffällig anders.
Quelle: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-demenzerkrankte-bekommen-oft-die-falsche-medizin-_arid,1945056.html#comments


Siehe dazu auch:

Psychopharmaka im Heim: Zuwenig Pflegekräfte, zuviel Pillen für Pflegebedürftige

BVerfG: Psychopharmaka gegen den Willen des Patienten nicht zulässig

u.v.a.m. ...

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Pflege-Report 2017: Pflegeheimbewohner erhalten zu viele Psychopharmaka

(05.04.17) Ein Teil der rund  800.000 Pflegeheimbewohner in Deutschland erhält zu viele Psychopharmaka. Besonders betroffen sind die rund 500.000 Demenzkranken. Das zeigt eine vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Untersuchung der Klinischen Pharmakologin Professor Petra Thürmann, deren Ergebnisse im Pflege-Report 2017 enthalten sind. Demnach erhielten gut 30 Prozent der Bewohner ein Antidepressivum, wobei es kaum Unterschiede zwischen Pflegebedürftigen mit oder ohne Demenz gibt. Dagegen bekommen 40 Prozent der Bewohner mit Demenz dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum, aber nur knapp 20 Prozent der Heimbewohner ohne Demenz.



Mit Blick auf unerwünschte Nebenwirkungen wie Stürze, Schlaganfälle oder Thrombosen warnt Professor Thürmann: "Neuroleptika werden als Medikamente zur Behandlung von krankhaften Wahnvorstellungen, sogenannten Psychosen, entwickelt. Nur ganz wenige Wirkstoffe sind zur Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen, und dann auch nur für eine kurze Therapiedauer von sechs Wochen. Der breite und dauerhafte Neuroleptika-Einsatz bei Pflegeheimbewohnern mit Demenz verstößt gegen die Leitlinien." Dabei verweist die Expertin aufs Ausland. Während 54 Prozent der spanischen und 47 Prozent der deutschen demenzkranken Heimbewohner Neuroleptika erhalten, sind es nur zwölf Prozent in Schweden und 30 Prozent in Finnland. "Es scheint also Spielraum und Alternativen zu geben", so das Mitglied des Sachverständigenrates des Bundesgesundheitsministeriums.

Die Pflegekräfte bestätigen das hohe Ausmaß an Psychopharmaka-Verordnungen in Pflegeheimen. Das belegt die im neuen Pflege-Report veröffentlichte schriftliche Befragung von 2.500 Pflegekräften durch das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO): Die Befragten geben an, dass im Durchschnitt bei mehr als der Hälfte der Bewohner ihres Pflegeheims Psychopharmaka eingesetzt werden. Zwei Drittel der Betroffenen (64 Prozent) erhielten demnach die Verordnungen auch länger als ein Jahr. Interessanterweise halten 82 Prozent der Pflegekräfte diesen Verordnungsumfang für angemessen. Dr. Antje Schwinger vom WIdO: "Das Problembewusstsein der Pflegekräfte muss hier offensichtlich geschärft werden. Um den Psychopharmaka-Einsatz in Pflegeheimen zu reduzieren, sollte sichergestellt werden, dass nicht-medikamentöse Ansätze im Arbeitsalltag stärker etabliert werden."

Laut Umfrage werden diese alternativen Ansätze auch häufig umgesetzt. So geben 67 Prozent der Pflegekräfte an, dass in ihrem Heim spezielle Pflegekonzepte zum Einsatz kommen, rund die Hälfte der Befragten (52 Prozent) verwendet Assessment-Instrumente. Auch Fallbesprechungen, kognitive und sensorische Verfahren kommen zum Einsatz. Doch geben gleichzeitig 56 Prozent der Befragten an, dass Zeitdruck die Umsetzung nicht-medikamentöser Verfahren teilweise beeinträchtige oder verhindere.

Die Pflegekräfte können für die Tendenz zur Übermedikation von Pflegeheimbewohnern mit Demenz am wenigsten. Das stellt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, klar. Der bewusste und kritische Umgang mit Psychopharmaka sei eine Teamaufgabe von Ärzten, Pflegeheimbetreibern, Pflegekräften, und Apothekern, die Pflegeheime betreuen. Vor allem die behandelnden Ärzte, aber auch Pflegeheimbetreiber seien hier in der Verantwortung für eine leitliniengerechte Medizin. "Ärzte stehen in der Pflicht, diese Medikamente nur dann einzusetzen, wenn es nicht anders geht und auch nur so kurz wie möglich. Und Pflegeheimbetreiber müssen ergänzend den Einsatz nicht-medikamentöser Versorgungsansätze fördern." Um die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflegeheimen zu verbessern, fordert Litsch ein Nachschärfen der Kooperationsvereinbarungen zwischen Pflegeheimen und Vertragsärzten auf Bundesebene. Außerdem müsse die Geriatrie in der ärztlichen Ausbildung ein stärkeres Gewicht erhalten. Schließlich sei ein Expertenstandard für die pflegerische Betreuung und Versorgung von demenziell Erkrankten nötig. Gute Pflege brauche zwar angemessene Ressourcen. Doch zeigten der internationale Vergleich und einige deutsche Leuchtturmprojekte auch, dass Versorgungsdefizite in der pflegerischen Versorgung von Demenzkranken nicht zwangsläufig immer nur mit mehr Geld oder Personal abgestellt werden. "Das ist auch eine Frage der pflegerischen Konzeption und Kultur", so Litsch.

(Pressemitteilung des AOK-Bundesverbandes vom 05.04.17)
Quelle: http://aok-bv.de/presse/pressemitteilungen/2017/index_18363.html

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Tochter beklagt Zustände
Heim pumpt Mutter mit Psychopillen voll

Freising - Diese ständige Trägheit, dazu die ausdruckslosen Augen. Irgendwann begann Margit G. sich über den Zustand ihrer Mutter richtig Sorgen zu machen.

 „Sie wollte sich gar nicht mehr bewegen, nicht mal im Rollstuhl nach draußen“, erzählt die Freisingerin. Ihre Mama Berta (84) ist leidet an Demenz und wohnt in einem Pflegeheim nahe der Domstadt. „Ich wusste einfach nicht, warum sich ihr Zustand immer verschlechterte.“ Bis es Margit G. reichte: Sie besorgte sich von der Apotheke die Medikamenten-Liste ihrer Mutter. Das schockierende Ergebnis: Über Jahre bekam die alte Dame täglich mehrere Psychopharmaka und obendrein noch ein Beruhigungsmittel verabreicht!

„Meine Mutter wurde regelrecht stillgelegt“, schimpft Margit G. „Und niemand hat mir je etwas gesagt.“ Im Gegenteil: Als die Freisingerin immer wieder nachfragte, was für Medikamente ihre Mutter denn bekomme, hieß es nur: „Das geht sie nichts an! Das bestimmt der Arzt.“

Die „Versorgung“ von Berta R. ist bei weitem kein Einzelfall. Im vergangenen Sommer zeigte ein Studie, dass 51 Prozent aller Heimbewohner in München Psychopharmaka verabreicht bekommen. Viele von ihnen ohne den nötigen richterlichen Beschluss. Der Grund ist oft derselbe: Vor allem Demenzkranke benötigen viel Aufmerksamkeit, sind oft unruhig, teils auch aggressiv. Fehlt nun das nötige Personal, ist es schlichtweg bequem, diese Patienten ruhigzustellen. „Es geht nicht, dass fehlende Pflegekräfte durch Psychopharmaka ersetzt werden“, schimpfte daher bei einer Tagung vor wenigen Monaten Reinhard Nemetz, Präsident des Münchner Amtsgerichts. Und auch KVR-Chef Wilfried Blume-Beyerle betonte vor kurzem in einem Gespräch mit der tz über die Ergebnisse der Heimaufsicht: „Beim Thema Psychopharmaka muss sich die Situation in manchen Einrichtungen noch dringend verbessern.“

Das sieht auch Margit G. so. Besonders da ihre Mutter in Pflegestufe I, also der niedrigsten, eingeordnet wurde. Eigentlich müsste man die demenzkranke Dame mobilisieren, sich viel mit ihr im Haus bewegen. „Genau das wird aber nicht getan“, kritisiert die Tochter. „Meine Mutter braucht Aufmerksamkeit, nicht weitere Tabletten. Und warum wird mir nicht gesagt, welche Medikamente sie bekommt? Ich habe doch die vollständige Vorsorgevollmacht.“ Und tatsächlich: Eigentlich hätte man ihr sagen müssen, was die Mama verabreicht bekommt.

Immerhin: Nachdem sich die Tochter bei der Heimleitung über die „Ruhigstellung“ ihrer Mama immer wieder lautstark beschwert hatte, ist die Dosis heruntergefahren worden. Derzeit bekommt Berta R. nur noch ein beruhigendes Medikament. Die zweifelhafte Begründung: Dieses helfe die Alzheimer-Erkrankung zu verlangsamen. Unglaublich: Vor wenigen Tagen bat die Heimleitung dann um ein Gespräch. Dabei legte man der Tochter nahe, ihre Mutter in ein anderes Heim zu bringen. Der „Vertrauensverlust“ sei einfach zu groß.

Die erschreckenden Zahlen:

 In deutschen Pflegeheimen gehören Psychopharmaka längst zum Alltag. Manchmal sind die Medikamente nötig, um besonders aggressive oder verängstigte Patienten überhaupt behandeln zu können. Aber: Eine große Studie der Universität Bremen hat ergeben, dass von 1,1 Millionen Demenzkranken ein knappes Viertel (genau 240 000 Menschen) zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt werden. Auch die Barmer Ersatzkasse kam bei einer Analyse zu dem Ergebnis: Besonders bei Frauen werden „Tranquilizer, Antidepressiva und Schlafmittel ohne erkennbare therapeutische Indikationen in einer Menge verordnet, die auf Dauer zu erheblichen unerwünschten Nebenwirkungen führen.“ In München zeigte erst im Sommer eine Studie, dass jeder zweite Heimbewohner mit Psychopharmaka behandelt wird. Eigentlich muss diese Medikation immer das Amtsgericht absegnen.
tz München, 10.03.2015 - Vielen Dank an Redakteur Armin Geier

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Zitat von: Bayerisches Fernsehen

Prof. Gerd Glaeske

Kritik am Umgang mit Neuroleptika

"Wir kritisieren das seit langem, dass Ärzte nach wie vor solche Mittel verordnen - solche Neuroleptika auch im großen Umfang verordnen. Wir haben vor allen Dingen gesehen, dass so zu sagen mit den Pflegestufen der Anteil von Neuroleptika-Verordnungen anwächst.

Das heißt, dass in der Pflegestufe drei bekommten über 50 % der Demenz-Patienten solche Neuroleptika. Nun kann mir niemand erzählen, dass jemand in der Pflegestufe drei noch zustimmen kann, zu solch einer Therapie.

Und ich glaube auch nicht, dass immer die Angehörigen vorher informiert werden darüber, dass solche Neuroleptika über längere Zeit gegeben werden.

Das heißt es ist eine Therapie, die oftmals OHNE ZUSTIMMUNG - entweder der Patientinnen und Patienten selber oder auch ohne Zustimmung der Betreuer - stattfindet.

Nun kann ein Arzt immer deutlich machen, dass es eine Indikation gegeben hat, eine Gefährdungssituation gegeben hat, dass es eine Aggressivität gegeben hat, deretwegen solche Arzneimittel verordnet worden sind.

Aber wenn man die Indikationen genau liest und wenn man genau anschaut, wie auch die Warnungen der Europäischen Arzneimittelbehörde, der Amerikanischen Arzneimittelbehörde, ja selbst der Hersteller gewesen sind, die Rote-Hand-Briefe verschicken mußten, dann müßte ein Arzt genau dieses Problem kennen und auch dieses Schadenspotential dieser Arzneimittel kennen."
Quelle: BR Mediathek Video, 29.01.2014, 19:00 Uhr, Bayerisches Fernsehen

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Strafanzeige gegen Altenheim wegen Ruhigstellung

Publiziert am 3. März 2013 von Anette Dowideit

Vor rund einem Jahr hatten wir in der Welt am Sonntag berichtet: Schätzungsweise fast eine Viertelmillion Demenzkranker in Deutschland werden mit Medikamenten ruhiggestellt, weil völlig überforderte Altenpfleger sich nicht anders zu helfen wissen. Nun reagiert eine Münchener Rechtsanwältin auf den Bericht: Mit einer Strafanzeige gegen den Leiter eines Altenheims und einen Arzt.

Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass ein Angehöriger eines Pflegebedürftigen diesen Schritt wagt: Die Münchenerin Dagmar Schön zeigte Mitte vergangener Woche den Psychiater und den Leiter des Heims an, in dem ihre mittlerweile verstorbene Mutter lebte.

In ihrer 21-seitigen Anzeige beruft sich die Rechtsanwältin unter anderem auf unseren Bericht von vergangenem Frühjahr. Darin hatten wir auf drei Zeitungsseiten nachgezeichnet, wie viele Menschen in deutschen Altenheimen und in der häuslichen Pflege mit Medikamenten außer Gefecht gesetzt werden, damit sie weniger Arbeit machen – und wie manche Heime damit auch noch abkassieren, weil die Bewohner dann unter Umständen in höhere Pflegestufen eingeordnet werden.

Laut der uns vorliegenden Anzeigeschrift hat auch die Mutter von Dagmar Schön das erlebt: Sie soll vom angeklagten Arzt, einem Psychiater, Neuroleptika verordnet bekommen haben – weil sie nachtaktiv war und so dazu gebracht werden sollte, im Bett zu bleiben, anstatt nachts durch das Altenheim zu laufen. Die Tochter, rechtliche Betreuerin der demenkranken Mutter, hatte den Arzt jedoch nie beauftragt. Stattdessen soll der Heimleiter mit ihm regelmäßig eng zusammenwirken.

Die Klägerin schreibt in ihrer Strafanzeige weiter, nicht nur ihre Mutter, sondern auch andere Heimbewohner seien vermutlich “medikamentös fixiert” worden. Das Heim sei personell deutlich unterbesetzt gewesen – was offenbar in vielen Altenheimen traurige Realität ist.
Quelle: http://investigativ.welt.de/2013/03/03/strafanzeige-gegen-altenheim-wegen-ruhigstellung/

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