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AKTUELLES / NEWS => Aktuelles aus den Medien => Thema gestartet von: admin am 06. April 2018, 02:13



Titel: Anteil pflegender Angehöriger in Bremen am höchsten
Beitrag von: admin am 06. April 2018, 02:13
Zitat
Häusliche Pflege überfordert Angehörige
Debatte nach Tragödie in Vegesack ‒ überdurchschnittlich viele Familien müssen sich in Bremen selbst helfen


Bremen/Hannover. Gewalt als Folge von Überforderung in der Pflege: Der Tod einer 86-jährigen Frau und ihres Sohnes in Bremen-Vegesack hat diesem Thema vor wenigen Tagen traurige Aktualität verschafft. Der Fall zeigt, welche schrecklichen Folgen es haben kann, wenn Angehörige an den Mühen der häuslichen Pflege zerbrechen.

Nach Darstellung der Polizei hatte der 52-Jährige seine Mutter getötet, weil er sich von der Situation überfordert fühlte. Darauf deutet ein Abschiedsbrief des Mannes hin, der sich nach der Tat selbst das Leben nahm. „Das ist natürlich ein Extrembeispiel“, sagt der Kölner Rehabilitationswissenschaftler Michael Neise. Es gebe jedoch einen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen der Überforderung von pflegenden Familienangehörigen und Gewaltausübung gegen die Hilfebedürftigen. „Belastungserfahrungen und Frustrationserleben können zu Gewalt führen“, sagt Neise.

Aggression gegen Pflegebedürftige sei „ein weites Feld“, ergänzt der Sozialwissenschaftler Thomas Görgen von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Sie reiche von verbaler Demütigung über Vernachlässigung bis zur aktiven Misshandlung. Görgen: „Der Unterschied zur normalen Gewaltkriminalität besteht darin, dass beim Täter oft keine Schädigungsabsicht besteht. Er weiß sich einfach nicht mehr zu helfen.“

Wie häufig Gewalt in der Pflege vorkommt, darüber können allerdings selbst Experten nur spekulieren. In Bremen lassen sich aus Polizeistatistiken keine entsprechenden Zusammenhänge herausfiltern. Auch im niedersächsischen Sozialministerium in Hannover gibt es keine Erkenntnisse. „Wir haben dazu keine Zahlen, das Problem der Gewalt in der häuslichen Pflege wird aber natürlich aufmerksam beobachtet“, sagt Behördensprecher Uwe Hildebrandt.

Die Pflege durch nahe Verwandte ist in Deutschland nach wie vor der Regelfall. Fast drei Viertel aller Pflegebedürftigen werden auf diese Weise versorgt, teilweise unterstützt durch ambulante Dienste. Erst mit großem Abstand folgt die Betreuung in stationären Einrichtungen.

In Bremen versorgen überdurchschnittlich viele Menschen ihre pflegebedürftigen Angehörigen selbst. Die Quote liegt bei 88 Prozent.
Diese Zahl nennt der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK). Der MDK wird immer tätig, wenn ein Antrag auf Pflegebedürftigkeit gestellt wird. Dass Bremen beim Anteil der häuslichen Pflege so deutlich über dem Bundesschnitt liegt, erklärt sich Volker Donk vom Netzwerk Selbsthilfe mit dem vergleichsweise hohen Anteil armer Haushalte. Viele Menschen, die kaum über Rücklagen verfügen, scheuten die finanziellen Belastungen einer stationären Pflege ihrer Angehörigen.

2017 hat der MDK im Land Bremen nach eigenen Angaben 16 577 Menschen begutachtet, „vom Baby bis zum Greis“. Wenn der MDK den Pflegegrad festgestellt hat, können die Angehörigen wählen, ob sie sich bei der Pflege nur finanziell unterstützen lassen und den Pflegebedürftigen selbst zu Hause versorgen oder ob sie sich dabei der Hilfe eines ambulanten Dienstes bedienen.

„Wir können beraten, aber die Entscheidung, wie sie mit der Pflegedürftigkeit umgehen, können wir keinem Angehörigen abnehmen“, sagt die MDK-Pflegesachverständige Hannelore Köster. Nach ihrer Darstellung fällt MDK-Mitarbeitern immer wieder auf, dass Pflegende überfordert sind. Das zeige sich beispielsweise, wenn Wohnungen stark verschmutzt seien. „Dann sprechen wir das auch an“, so Köster, „aber wir sind nicht die Polizei.“ Der Vegesacker Fall ist ihr nach eigenen Worten nicht bekannt.

Zu der mutmaßlichen Verzweiflungstat in Bremen-Nord will sich auch Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) nicht konkret äußern. Grundsätzlich gelte aber, dass Pflege im häuslichen Umfeld schnell in Überforderung münden kann. Angehörige meinten zunächst oft, auch ohne professionelle Hilfe zurechtzukommen. Unterstützung durch die ambulante oder stationäre Pflege werde dann zu spät in Anspruch genommen, oftmals erst, wenn die Pflegenden schon sehr erschöpft sind. „Man muss den Mut aufbringen, sich einzugestehen, dass man die Pflege nicht alleine leisten kann. Das ist für viele ganz schwierig“, ist Stahmann überzeugt.

Anlaufstellen für pflegende Angehörige sind in erster Linie die Pflegestützpunkte. Zwei davon gibt es in Bremen, 41 in Niedersachsen. Sie informieren über ambulante Pflegedienste, Kurzzeitpflege, Selbsthilfegruppen pflegender Angehöriger oder Fortbildungen für pflegende Angehörige.
Quelle: weser-kurier.de, 05.04.2018