Phantom-Haltestelle im Altenheim

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Der Kranke wird eher nervös als ruhig

In seiner Grundsatzstellungnahme hat sich der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) zu der Thematik "Haltestellen für Demenzkranke" im Dezember 2009 wie folgt geäussert, s. S. 81 ff.:

Zitat

Wer auf den Bus wartet will auch busfahren

Eine geradezu Mode gewordene Form des inhaltlichen  Eingehens auf Wahnvorstellungen ist die Errichtung von Bushaltestellen in Wohnbereichen und Gärten für Menschen mit Demenz. Damit werden Bushaltestellen an Orten eingerichtet, an denen in der Vergangenheit noch nie ein Bus gehalten hat und wo auch in Zukunft nie einer halten wird – die Haltestelle als Endstation.

Für Bushalteschilder in einem Hausflur eines Pflegeheimes oder am Wegesrand in einem Garten wird ins Feld geführt, dass der betroffene Mensch an dieser für ihn vertrauten Umgebung verharrt und vielleicht sogar zur Ruhe kommt. Es stellt sich die Frage, warum der mobile Mensch mit Demenz, der im Garten und Wohnbereich seinem Bewegungsdrang nachgehen möchte, ausgerechnet an einer Bushaltestelle zur Ruhe kommen soll. Wer auf den Bus wartet will auch busfahren. Das gilt auch für demente Menschen, bei  denen mit dem Halteschild ein Wiedererkennungseffekt ausgelöst wird, denn sonst würde er sich dort auch nicht niederlassen.

Menschen, die nirgendwo hinwollen sitzen nicht an Bushaltestellen, nicht im gesunden und auch nicht im demenziell eränderten Leben. Wenn der Bus nicht kommt, werden Fragen laut wie „wann kommt der Bus endlich“. Der Kranke wird eher nervös als ruhig. Daran ändert auch die vertröstende Antwort nichts „der Bus fällt heute aus“.  Der Mensch mit Demenz wird in seiner Krankheit nicht ernst genommen. Der Pflegende steigt ein, in das psychotische Erleben seines Patienten, nimmt teil an seinem Wahnerleben, festigt ihn darin. Ein derartiges Vorgehen entspricht nicht dem in Pflege und Therapie üblichen Echtheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch von Carl Rogers. Und das in mehrfacher Hinsicht.

Bei den auf den Bus wartenden Demenzkranken wird deren krankheitsveränderte Wirklichkeitswahrnehmung für andere Zwecke funktionalisiert: wäre es nicht wahrhaftiger zu sagen: gut, in der Zeit, in der unser Demenzkranker an der Bushaltestelle sitzt und wartet, hat er für uns Profis keinen Betreuungsbedarf; er ist aufgeräumt und wir können uns anderen Personen und Dingen zuwenden. Nur das hört man nicht. Stattdessen wird argumentiert, es sei besser, die Menschen mit Demenz an der Bushaltestelle warten zu lassen, als diese Menschen medikamentös ruhig zu stellen.

Man staunt über die therapeutischen Alternativen, die hier eröffnet werden. Ruhe als Therapieziel: Ruhig müssen sie offenbar sein, die Demenzkranken. Warum und für wen eigentlich? Damit es ihnen besser geht oder dem Personal? Geparkt auf der Bank bei der Bushaltestelle, kann sich das Personal offenbar anderem zuwenden als dem wartenden Bewohner. Was erleben Pflegende eigentlich positiv, wenn sie von den positiven Effekten dieser Bushaltestellenattrappen berichten? Ist es das Erleben des  Demenzkranken oder das eigene, das auf dessen Erlebniswelt projiziert wird?

Warten ist keine Beschäftigung. Und auch keine Therapie. Es sei denn, man bezahlt dafür Eintrittsgeld im Theater, und findet  es intellektuell anregend, anderen dabei zuzusehen wie sie auf Godot warten. Jemanden vorsätzlich warten zu lassen ist deshalb eine Unverschämtheit, weil es das Mittel ist, einen Zweck, ein Ziel zu erreichen. Warten ist nie Zweck. Auch nicht in der Demenz, weil der Patient dort keinen Zweck mehr benennen kann (vgl. Niepel, A. 2009).

Das von Sachweh (Sachweh, S. 2008) als letzten Ausweg relativierte Konzept der „Notlüge“ oder „therapeutischen Lüge“ wird von Lind mit der Argumentation kritisiert, im mittelschweren Stadium der Demenz vom Alzheimer-Typ gäbe es für die Betroffenen keinen Realbezug in der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge mehr, denn die hierfür erforderlichen Hirnareale (Stirnhirnbereich der Neokortex) seien bereits abgebaut, so dass in „diesem Stadium gar nicht mehr „gelogen“ werden“ könne, sondern situationsspezifisch beruhigt und abgelenkt (Lind, S. 2008).

Das sehen Demenzkranke offenbar nicht so, wenn man sie nur fragt, wie ein Gespräch mit dem 58 jährigen Demenzkranken Richard Taylor zeigt: “Menschen belügen Menschen mit einer Demenz die ganze Zeit, sie erzählen ihnen kleine Unwahrheiten. Sie nennen  sie Halbwahrheiten oder Notlügen, aber es bleiben Lügen, ... die ausgesprochen werden, um das Verhalten von Menschen mit einer Demenz zu manipulieren. Jede Person mit einer Demenz weiß, dass sie von Menschen angelogen wird.“

(Interview mit Richard Taylor: Ich spüre, wenn man mich anlügt. In: pflegen: Demenz.11/2009 S. 15) Es besteht die Gefahr, dass durch systematisches Täuschen und Lügen die Grundlage der Beziehung zum Menschen mit Demenz zerstört wird (Müller-Hergl, Ch. 2009; NICE-Leitlinie 42 in Kapitel 7)


[Zur vollständigen MDS-Grundsatzstellungnahme Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen >>]

admin:
Schein-Bushaltestelle (auch Pseudo-Haltestelle oder Phantom-Haltestelle)

Eine Beschreibung dazu ist im Internet bei Wikipedia zu finden unter:
http://de.wikipedia.org/wiki/Schein-Bushaltestelle#cite_note-8


Ein paar Erfahrungen mit Phantom/Haltestellen sind im Internet zu finden

http://www.ebede.net/forum/index.php?topic=572.0

http://www.garten-therapie.com/index.php?option=com_fireboard&Itemid=62&func=view&id=181&catid=19

http://www.krankenschwester.de/forum/millieugestaltung-altenpflege/25569-scheinbushaltestelle.html

http://www.shortnews.de/id/701622/Angehoerige-finden-Einrichtung-von-falschen-Bushaltestellen-im-Seniorenheim-veraeppelnd

http://www.pflegeweltweit.de/forum/showthread.php?574-Bushaltestelle-vor-dem-Altenheim


Zitat von: Andreas Niepel

ALFRED VOLLMER, vom Diözesancaritasverband in Köln schreibt hierzu beispielsweise : „ ... Bushaltestellen aufzustellen, wohl wissend, dass niemals ein Bus vorbeikommt ist für uns schon ein Betrug, für den Menschen mit Demenz, der auf unsere Hilfe angewiesen ist, ein doppelter. Wem kann der Mensch in seiner Situation, der Demenz denn noch trauen? Den Menschen "abzustellen" an einer unrealistischen Bushaltestelle, verkennt den Menschen mit seiner unabdingbaren und unverlierbaren Würde, treibt den Menschen, der auf Menschen angewiesen ist, in eine Isolation uns schließlich in den "sozialen Tod". Der Wartende, der Suchende findet an der Bushaltestelle keine Antwort, er ist verloren.“

Und auch der Wiener Arzt und ausgewiesener Gartentherapiekenner Dr. FRITZ NEUHAUSER vom Geriatriezentrum am Wienerwald weist insbesondere auf diese Haltung hinter dem Objekt hin, wenn er schreibt : „… Vielleicht sind diese Busstationen nur die logische Verlängerung eines grassierenden Zynismus, der einfach zementieren will, dass dieser Ort kein Ort ist sondern ein Zustand. Ein unentfliehbarer Umstand, mit einer Logik, die darin besteht, dass sie nicht greift und engagiertes Handeln jedenfalls keine Option darstellt. Es neutralisiert berechtigte Wünsche und Bedürfnisse in einer sehr verächtlichen Weise, indem man automatisch als Statist der Lächerlichkeit auftritt, wie in einer schlechten Sendung, wo das Publikum, die Wissenden, gleich mitgrölen und sich auf die Schenkeln schlagen.
Welch ein Irrtum, wenn man meint, dass in einem solchen Setting, einer solchen Inszenierung, sich irgendein Teilnehmer dieser Lächerlichkeit entziehen könnte. Eine Offenbarung an Peinlichkeit, weil ja doch darin ein eindeutiges Statement über die Wertevorstellungen und das Menschenbild darbietet, dem sich keiner entziehen kann, der daran vorbeikommt, es sei denn man beschließt, man gehört nicht dazu, nicht zu jenen. Dann hat man die Betreuten genau dort, wo man meint sie besser aushalten zu können, in einer anderen Welt, mit anderen Regeln, einer Ersatzwelt, einer Derealisation ... Ein wahrer Humus für Demenz! „

Die Quintessenz der Frage, ob Bushaltestellen im therapeutischen Garten für Demenzerkrankte sinnvoll sind, bringt URSULA LEHR, ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und eine der angesehensten, erfahrensten und international renommiertesten Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Altenforschung auf den Punkt, wenn sie dazu sagt : „ ... es ist ein Missbrauch der Idee des "therapeutischen Gartens", der einmal zu Aktivitäten anregen soll (zum Herumgehen, zur Bearbeitung), der zum anderen aber vor allem zur Beobachtung der Veränderungen, des Wachsens, des "Lebens" anregen soll. Eine Bushaltestelle fördert die Passivität (Sitzen und erfolgloses Warten) und bleibt immer gleich, verändert sich nicht, fördert Starrheit, bietet somit keinerlei Stimulation.“

Somit bleibt die Hoffnung, dass es gelingt derartige wahre Sackgassen in der Entwicklung therapeutischer Gärten zu beseitigen. Wer den Garten für Therapie, Pflege und Betreuung nutzen will, sollte sich ganz grundsätzlich weniger mit einer Instrumentierung, als vielmehr mit dem Menschen, seiner Situation und seinen Bedürfnissen befassen , denn dann ergeben sich wirklich vielfältige Nutzungsmöglichkeiten; nur:

Bushaltestellen haben weder in der Altenhilfe, noch im therapeutischen Garten etwas zu suchen.
Quelle: http://www.garten-und-therapie.de/warten.html

Multihilde:
Phantom-Haltestelle im Altenheim 

„Es fährt kein Bus nach Nirgendwo“

Zitat

………
Doch der Einsatz der Schein-Haltestelle findet in der Fachwelt keine ungeteilte Zustimmung. ………

Und genau darum haben die Therapeuten Julia Guhl und Georg Bischoff in der Mauritius-Therapieklinik die Idee von der Phantom-Haltestelle weiterentwickelt. Sie setzen die falsche Haltestelle als Mittel zur Reha ein. Der Fahrplan gibt an, wann sich die Rollator-, Rollstuhl- oder Gang-Gruppe trifft…..

Quelle: http://www.derwesten.de/wp/region

Der vollständige Bericht ist unter dem Link oben nachzulesen.

Einer der Kommentare dazu:
"Die Idee aus der Mauritius-Therapieklinik finde ich sehr gelungen, denn dort wird jemand auch mitgenommen und auch betreut. Besser als eine Phantomhaltestelle wo nichts passiert."

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