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News: BGH stärkt Verbraucherrechte von Pflegeheimbewohnern

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Autor Thema: "Jedes fünfte Altenheim betrügt seine Bewohner"  (Gelesen 13727 mal)
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« Antworten #1 am: 12. Oktober 2011, 21:58 »

Pflegeeinrichtungen

Korruption und Betrug – der große Altenheim-Report

Autorin: Anette Dowideit | 03.10.2011

Wenn Altenpflegeheime große Profite machen sollen, bleibt nur wenig Zeit für die Betreuung. Die "Welt am Sonntag" zeigt, wie schlimm die Zustände sind.

Frankfurt am Main, im März 2010. Polizeibeamte und Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft durchsuchen die Büros des Altenpflegeheims "An den Niddaauen". Sie beschlagnahmen Ordner um Ordner, in denen der Alltag des Heims dokumentiert ist. Wenige Tage zuvor hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) das 127-Betten-Haus im Norden der Stadt, nahe der Autobahn, überraschend kontrolliert – und dabei Erschreckendes zutage gefördert. Der interne MDK-Bericht liegt der "Welt am Sonntag" vor. Dort liest man von bettlägerigen Patienten, die stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen gelassen wurden, von falsch gegebenen Insulininjektionen, verdreckten Betten, unterernährten Bewohnern und Patienten mit unversorgten Operationswunden. Alles zahlende Kunden des Heims.

Eine Angehörige erzählt damals der Lokalzeitung, ihre Mutter habe eine Windel tragen müssen, und das, obwohl sie durchaus in der Lage gewesen sei, zur Toilette zu gehen. Hätte es nur genügend Personal gegeben, um sie die paar Schritte ins Badezimmer zu begleiten. Die Tochter einer anderen Bewohnerin reicht wenig später Klage ein, weil die Pfleger das entzündete Bein ihrer Mutter nicht behandelt haben sollen. Die staatliche Heimaufsicht verhängt als Reaktion auf die Missstände einen Aufnahmestopp für neue Bewohner. Das Heim schrammt daraufhin knapp an der Zwangsschließung vorbei.

Unterbeschäftigung "mit System"

Das Altenpflegeheim gehört zur Unternehmensgruppe Casa Reha. Die Firma mit Sitz im hessischen Oberursel betreibt bundesweit 55 Pflegeheime, in denen mehr als 8000 Menschen leben. Eine Firma mit einem Jahresumsatz von rund 200 Millionen Euro, im Besitz von Finanzinvestoren, wahrscheinlich die Altenpflegekette mit der aggressivsten Wachstumsgeschichte im Land. Pro Jahr werden nach Unternehmensangaben fünf bis acht neue Heime eröffnet.

Es ist ein Unternehmen, in dessen Einrichtungen immer wieder Missstände bekannt werden. Glaubt man ehemaligen Pflegern und Managern von Casa Reha, könnte das daran liegen, dass das Unternehmen systematisch zu wenige Mitarbeiter beschäftigt. Das berichten frühere Angestellte der Firma, deren eidesstattliche Versicherungen der "Welt am Sonntag" vorliegen. "Das Heim, in dem ich gearbeitet habe, hatte auf jeder Station eine Pflegefachkraft zu wenig", sagt Markus Anzbach (Name geändert), examinierter Altenpfleger und bis vor wenigen Wochen angestellt in einem Casa-Reha-Seniorenheim. Die Situation habe über Monate hinweg bestanden, es habe keine Bestrebungen gegeben, dies zu ändern. "Stattdessen sollten die Pfleger durch Überstunden die zusätzliche Arbeit bewältigen", sagt Anzbach. Ende Juli reichte er die Kündigung ein.

Auch ehemalige Casa-Reha-Pfleger aus anderen Städten berichten, dass sie während des Dienstes im Laufschritt über die Gänge hetzten, oft die Pausen ausfallen ließen und trotzdem jeden Abend mit dem schlechten Gefühl nach Hause gingen, die Bewohner nur mit dem Nötigsten versorgt zu haben. "Auf meiner Station blieb so wenig Zeit, dass wir die Bewohner morgens alle komplett ausgezogen, mit dem Rollstuhl unter die Dusche geschoben und von Kopf bis Fuß kurz abgebraust haben", erzählt die Pflegerin Ines Weber (Name geändert). "Die alten Leute wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschah." Anzbach sagt, er und seine Kollegen hätten im Frühjahr mehrere Wochen lang mit nur zwei ausgebildeten Altenpflegern eine Station mit 35 zum Teil schwer Pflegebedürftigen versorgen müssen. Mit einer Hand hätten sie den Bewohnern das Essen in den Mund geschoben und währenddessen mit der anderen die Dokumentation ausgefüllt.

Jedes vierte Heim beschäftigt zu wenig Personal

Dass ein Heim weniger Pflegekräfte beschäftigt, als Kassen und Bewohner bezahlen, ist laut Recherchen der "Welt am Sonntag" kein Einzelfall. Vor allem leichte, kaum auffällige Unterschreitungen scheinen gang und gäbe. Wie viele Pfleger in einem Heim arbeiten müssen, richtet sich nach der Zahl der Pflegebedürftigen und der Pflegestufe, in die diese eingeteilt sind. In den meisten Bundesländern muss die Hälfte des Personals aus examinierten Fachkräften bestehen. Diese Quote ist jedoch häufig nicht erfüllt. Nach Angaben der hessischen Heimaufsicht etwa, einer Behörde, die dem Landessozialministerium unterstellt ist, kommen in diesem Bundesland "leichte Unterschreitungen" der Fachkraftquote in jedem vierten Heim vor.

Das hängt damit zusammen, wie der Markt für Altenpflege funktioniert. Die Preise können sich hier nicht abhängig von Angebot und Nachfrage frei bilden: Die Pflegekassen legen fest, wie viel an die Betreiber gezahlt wird. Deshalb können diese ihre Gewinne nur dann spürbar steigern, wenn sie die Kosten drücken. Bei Casa Reha scheint der Kostendruck besonders groß - was die Firma zu einem Beispiel dafür macht, unter welchen Bedingungen private Altenheimketten arbeiten und was im System schieflaufen kann, wenn Gewinnmaximierung über alles gestellt wird.

Ines Weber staunte nicht schlecht, als sie eines Morgens bei Dienstbeginn einen Aushang am Schwarzen Brett ihres Altenheims bemerkte. Da hing die Teilnehmerliste einer Fortbildung mit dem Vermerk: "Diese Mitarbeiter haben erfolgreich teilgenommen". Auf der Liste stand auch der Name der Altenpflegerin Weber. Und das, obwohl sie von der Existenz dieser Fortbildung gerade zum ersten Mal las. "Ich habe dann gleich die Pflegedienstleitung darauf angesprochen und die Antwort erhalten: 'Die Liste ist doch nur für die Pflegekasse.'"

Kurzfristige Interview-Absage

Die Firmenzentrale von Casa Reha liegt in einem Gewerbegebiet von Oberursel, ein unauffälliges Bürogebäude neben einer Autovermietung. Am Eingang prangt das freundliche Unternehmenslogo, ein Strichmännchen in weißem Herz auf grünem Grund. "Willkommen an einem Ort, an dem man sich wohlfühlt", wirbt das Unternehmen auf seiner Internetseite. Der Besuch der Firmenzentrale endet hier. Die Firma sagte ein vereinbartes Interview mit einem ihrer beiden Geschäftsführer, Ulrich Höngen, kurzfristig ab.

Stattdessen lässt sie als Antwort auf einen umfangreichen Fragenkatalog von einem Anwaltsbüro schriftlich mitteilen, alle in den Recherchen erhobenen Vorwürfe würden "mit Entschiedenheit zurückgewiesen". Die Aussagen der ehemaligen Pfleger, es habe in ihren Einrichtungen weniger Personal gegeben als mit den Pflegekassen vereinbart, bestreite die Firma, heißt es in dem Schreiben. "Unzutreffend ist auch die Behauptung, dass es in einer (nicht genannten) Pflegeeinrichtung unserer Mandantschaft auf jeder Station eine Vollzeitkraft zu wenig gegeben haben soll, und dies auch noch über Monate hinweg." Seitens des MDK lägen keinerlei Beanstandungen über zu niedrige Personalausstattung vor, betont sie. Den Vorwurf getürkter Fortbildungslisten kommentiert Casa Reha nicht. Keinesfalls, schreiben die Anwälte, sei die Geschäftsführung für eine etwaige Unterschreitung von Personalschlüsseln verantwortlich, indem sie Heimleitungen dazu angehalten oder durch Budget-Vorgaben gezwungen hätte, weniger Pfleger einzustellen, als mit den Pflegekassen vereinbart ist.

Heimleitung wird mit Kostendruck gezwungen

Ein hochrangiger Ex-Manager der Firma, der bis vor wenigen Monaten bei Casa Reha beschäftigt war, ist dagegen der Meinung, dass genau dies zu seiner Zeit der Fall gewesen sei. Die zu niedrigen Personalstände seien eine Folge der Gewinnanforderungen der Geschäftsführung. "Die einzelnen Häuser können den Gewinnerwartungen nur genügen, indem sie jeweils knapp unter den mit den Pflegekassen verhandelten Personalschlüsseln bleiben", glaubt der Manager, der direkt der Geschäftsführung unterstellt war. Zwar bekomme ein einzelner Heimleiter kein Gewinnziel vorgegeben, jedoch werde in regelmäßigen Verhandlungen mit der Führungsebene in Oberursel das Budget festgelegt, mit dem das Heim im nächsten Jahr arbeiten müsse - und dies sei oft so knapp kalkuliert, dass der Heimleiter nicht anders könne, als mit zu wenig Pflegern zu arbeiten.

Der Kostendruck gehöre längst zur Normalität im deutschen Altenpflegesystem. Das wiederum führe dazu, dass sich alle Seiten mit kleineren Missständen arrangiert haben. Das sagt Nikolaos Tavridis, der mit seiner Beratungsfirma Axion Consult seit mehr als zehn Jahren im Geschäft ist und sich in der Branche auskennt wie wenige andere. Tavridis war vor einigen Jahren auch einmal Finanzchef von Casa Reha. "Die Prüfbehörden drücken oft ein Auge zu, wenn es um leichte Unterschreitungen der Personalschlüssel geht. Ihnen ist es sogar ganz recht, wenn große privatwirtschaftliche Betreiber mit kleinen Budgets arbeiten." Denn dann könne die Pflegekasse in den nächsten Verhandlungen mit anderen, kleineren Trägern in der gleichen Region argumentieren: Wenn eine Casa Reha mit so niedrigen Sätzen auskommt, wieso schafft ihr das dann nicht auch?

Nur selten Bußgelder bei Unterschreitung der Quoten

Die AOK bestätigt, bei "leichten Unterschreitungen" der Fachkraftquote, also wenn ein Heimbetreiber anstatt der geforderten 50 Prozent nur 48 Prozent examinierte Pfleger beschäftige, seien die Heime meist rechtlich nicht zu belangen. In solchen Fällen würden, wenn überhaupt, nur eine Rückzahlung der zu Unrecht erhaltenen Pflegekassenzuschüsse fällig. Nur in wenigen Fällen verhängt die Heimaufsicht ein Bußgeld.

Die Öffentlichkeit und die Bewohner des betroffenen Heims erfahren von alldem nichts. Die in der SPD-Bundestagsfraktion für Gesundheit und Soziales zuständige Abgeordnete Elke Ferner sagt, es sei ein Problem, dass eine solche Praxis "als Kavaliersdelikt" abgetan werde. "Wir können nur an die Heimaufsicht auf Landesebene appellieren, dass sie die gesetzlichen Möglichkeiten für Strafen ausschöpft, damit solche Methoden unattraktiver werden." Auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willi Zylajew fordert: "Schwarze Schafe in der Altenpflegebranche müssen entschiedener als bisher gebrandmarkt werden." Zylajew plädiert auch für stärkere Kontrollen. "Fünf unangemeldete Kontrollbesuche pro Jahr wären sinnvoll, davon eine im Nacht- und eine im Wochenenddienst." Bei ihren Besuchen in den Heimen müssten die Kontrolleure auch darauf achten, ob tatsächlich alle Altenpfleger, die auf den Dienstplänen angegeben sind, im Haus im Einsatz seien.

Tricks mit den Dienstplänen

In der Politik, meint Tavridis, verschlössen die meisten Verantwortlichen die Augen vor kleineren Gesetzesverstößen absichtlich. "Sonst müsste die logische, aber unbequeme Konsequenz sein, dass die Beiträge für die Pflegeversicherung steigen, um eine gute Pflegequalität zu gewährleisten. Und das will natürlich kein Politiker verantworten." Durch den demografischen Wandel, der in den kommenden Jahrzehnten die Zahl pflegebedürftiger Alter anwachsen lassen wird, potenziert sich dieses Problem.

Pflegerin Ines Weber schildert auch, wie in ihrem Heim versucht worden sei, den zu niedrigen Personalstand gegenüber der Heimaufsicht zu verschleiern, indem den Prüfern fehlerhafte Dienstpläne vorgelegt worden sein sollen. "Eine Pflegerin, die erst seit zwei Tagen aus der Einrichtung in Chemnitz als Aushilfe zu uns gekommen war, stand schon für die letzten Wochen im Dienstplan." Casa Reha kommentiert, solche Vorgänge seien der Geschäftsführung "nicht bekannt" - mit anderen Worten: Wenn Dienstpläne gefälscht wurden, dann ohne Wissen der Geschäftsführung.

Auf dem Markt für Altenpflege tummeln sich viele privatwirtschaftliche Anbieter, die Gewinne erzielen wollen. Grundsätzlich ist das auch gut. Denn ohne die privaten Betreibergesellschaften gäbe es in Deutschland zu wenige Betten. Der Unterschied zwischen Casa Reha und den meisten Konkurrenten sind die Investoren, die hinter der Gesellschaft stehen. Casa Reha gehörte seit seiner Gründung 1995 einer Reihe verschiedener Finanzinvestoren. Diese Firmen verdienen ihr Geld damit, im Auftrag von Geldanlegern Firmen zu kaufen und diese nach ein paar Jahren gewinnbringend weiterzuveräußern. Sie sind bekannt dafür, dass sie die gekauften Firmen zum Teil mit Bankkrediten bezahlen. Die Zinsen für diese Kredite müssen die Firmen bezahlen. Dazu kommen die Gehälter für Berater – Juristen, Wirtschaftsprüfer, Consultants – und die Gehälter der Private-Equity-Manager.

Renditen bis zu 13 Prozent

Wenn all dieses ausbezahlt ist, soll Casa Reha noch einen Nachsteuergewinn von neun bis 13 Prozent erwirtschaften. Dies gab ein Sprecher der Beteiligungsfirma Advent International, die momentan einen Anteil an Casa Reha hält, in einem Interview pauschal als Ziel für seine Beteiligungen aus. Bezahlt wird alles vom deutschen Sozialsystem, und von den Bewohnern. Casa Reha selbst erklärt, seine Gewinne erziele das Unternehmen keinesfalls durch Personalunterdeckung oder fehlerhafte Abrechnung gegenüber den Kassen. Die Kostenvorteile resultierten vielmehr daraus, dass man für die über 50 Heime zentral für die Bereiche Verpflegung, Hygiene und Reinigung oder Energie einkaufen und verhandeln könne und dass in der Verwaltung zentrale IT-Systeme eingesetzt werden könnten.

Das klingt plausibel. Bloß: Die meisten unabhängigen Branchenexperten sind sich einig, dass all dies noch nicht reichen kann, um solch hohe Gewinne zu erzielen, wie private Beteiligungsgesellschaften sie fordern. Eine Nachsteuerrendite, die sich auf seriöse Weise erwirtschaften ließe, sagt etwa Branchenberater Tavridis, liege "irgendwo zwischen sechs und acht Prozent" – und seine Einschätzung unter mehreren Pflegeexperten ist noch die höchste.

Das Personal in mehreren Casa-Reha-Häusern soll laut Ex-Mitarbeitern, deren eidesstattliche Erklärungen der Redaktion vorliegen, so knapp sein, dass die Versorgung nur mit Überstunden sichergestellt werden könne. "Zu meiner Zeit gingen die Heimleiter gegen Ende des Jahres zu den Pflegern und boten ihnen an, die Hälfte ihrer Überstunden auszubezahlen, wenn sie die andere Hälfte verfallen ließen", sagt eine ehemalige Qualitätsprüferin von Casa Reha. Das Unternehmen bestreitet dies und schreibt, betriebsinterne Vorgaben zum gezielten Aufbau von Überstunden gebe es nicht. Geleistete Überstunden würden grundsätzlich bezahlt oder mit Freizeit ausgeglichen.

Pfleger: Keine Möglichkeit zum Abbau von Überstunden

Pfleger berichten allerdings, es gebe praktisch keine Möglichkeiten, Überstunden abzubauen. Im Gegenteil: Selbst wer im Urlaub sei oder krank, werde oft zum Dienst telefoniert. "Ich hatte mir einmal einen Nagel in den Fuß getreten, konnte kaum noch auftreten und wurde drei Tage krankgeschrieben", sagt eine Pflegehelferin, "da klingelte morgens um fünf Uhr das Telefon. Die Pflegedienstleiterin setzte mich unter Druck, damit ich trotzdem arbeiten käme."

Anzbach berichtet, in seinem Heim sei auch gespart worden, indem Zeitverträge nicht verlängert wurden. Die Heimleitung habe Neueinstellungen so weit wie möglich nach hinten verschoben. "Wenn wir uns über den Personalmangel beschwerten, argumentierte die Heimleitung immer, sie habe ja Zeitungsannoncen geschaltet, es habe sich bloß niemand gemeldet." Auch das habe System, meint er. "Im Schnitt wird einer Fachkraft in unserer Stadt ein Gehalt von 1900 Euro brutto plus Zuschläge gezahlt. Unsere Einrichtung zahlte aber nur 1800 Euro brutto, plus Zuschläge. Da suche ich mir als begehrte Fachkraft natürlich lieber einen anderen Arbeitgeber aus." Die Casa-Reha-Geschäftsführung entgegnet diplomatisch, der Vorwurf unterdurchschnittlicher Bezahlung könne nicht aufrechterhalten werden, wenn man sämtliche Arbeits- und Vergütungskonditionen sachgerecht betrachte.

Verzögerungsstrategien bei Neueinstellungen

In der Branche seien Verzögerungsstrategien bei Einstellungen gängig, sagt Adelheid von Stösser. Sie leitet den bundesweit aktiven "Pflege-Selbsthilfeverband", der sich für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen in Heimen einsetzt. "Nicht nur bei großen privaten Trägern wird häufig auf diese Weise am Personalstand getrickst, auch anderswo. Gegenüber den Pflegekassen kann die Heimleitung somit den Nachweis erbringen, dass sie schließlich über Stellenausschreibungen versucht hat, mehr Pfleger einzustellen." Auch das überlastete Personal werde so vertröstet.

Es ist nicht so, dass Heimbetreiber in Deutschland tun und lassen können, was sie wollen. Aufsichtsbehörden gibt es genügend. Neben der staatlichen Heimaufsicht und den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung (MDK) kontrolliert etwa auch das Gesundheitsamt. Das Problem ist: Während die großen Heimbetreiber bundesweit agieren, sind die Prüfbehörden regional, bestenfalls landesweit organisiert. Ein deutschlandweites Register darüber, welcher Betreiber wie oft gegen Regelungen verstoßen hat, existiert nicht. Systematische Verstöße lassen sich so kaum feststellen.

Aussagekraft der offiziellen Statistik ist dürftig

Zwar erstellt der MDK alle drei Jahre eine Statistik, in der steht, wie viele Heime auf welche Weise auffällig wurden. Die Daten werden jedoch aus Datenschutzgründen anonymisiert erhoben und bringen somit keinerlei Erkenntnisgewinn über die Qualität einzelner Betreiber. Das Bundesgesundheitsministerium, oberste zuständige Behörde für die Qualität der Altenpflege in Deutschland, sieht hier keinen Mangel. Unter dem liberalen Gesundheitsminister Daniel Bahr teilt das Ministerium auf Anfrage mit, ein weiteres Register müsse "erst unter Beweis stellen, dass der zusätzliche Aufwand gerechtfertigt ist und zusätzlichen Nutzen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bringt" und müsse "angesichts der knappen finanziellen und personellen Ressourcen sehr genau bedacht" sein. Auch gebe bereits das Anfang 2010 erarbeitete Pflegenotensystem hinreichend Aufschluss über die Qualität einer Einrichtung.

Die Aussagekraft dieser im Internet veröffentlichten Pflegenoten ist indes dürftig. Über Beanstandungen der Prüfbehörden geben sie kaum Aufschluss. Das zeigt etwa das Beispiel des Casa-Reha-Heims im niedersächsischen Bückeburg. Die Einrichtung schmückt sich aktuell mit der Prüfnote 1,1, wird aber gleichzeitig von der dortigen Heimaufsicht wegen "Defiziten in der adäquaten Personaleinsatzplanung" engmaschig überwacht. Zu solch guten Noten kann es dennoch kommen, weil Heime in der MDK-Bewertung auch Punkte für schöne Aufenthaltsräume oder Gärten sammeln können und diese genauso gewichtet werden wie etwa die Wundversorgung.

Fehlende bundesweite Aufsicht erschwert die Klagen

Die fehlende bundesweite Aufsicht ermöglicht es Betreibern wie Casa Reha, Negativschlagzeilen als bedauerliche Einzelfälle erklären zu können. In Frankfurt etwa setzte die Geschäftsleitung einen neuen Heimleiter ein – und konnte so die Schließung abwenden. Im jüngsten MDK-Bericht über das Heim vom Februar 2011 schreiben die Prüfer lobend, dass sich die Zustände deutlich verbessert hätten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt heute nur noch im anhängigen Verfahren, bei dem die Tochter der mittlerweile, aus anderen Gründen, verstorbenen Bewohnerin geklagt hatte. Das Hauptverfahren gegen Heimleitung und Pflegedienstleitung wurde eingestellt. Die Vorwürfe ließen sich nicht belegen, heißt es bei der Staatsanwaltschaft.

Die meisten vergleichbaren Fälle gingen so oder ähnlich aus, sagt die Frankfurter Staatsanwaltssprecherin Doris Möller-Scheu. "Es ist ziemlich schwierig, den juristischen Beweis anzustellen, dass eine Geschäftsführung eine Gewinnvorgabe gibt und sich als unmittelbare Folge daraus eine Bewohnerin wund gelegen hat." Theoretisch möglich sei dies, erklärt der Hamburger Rechtsanwalt Ronald Richter, der sich auf Pflegerecht spezialisiert hat. In der Regel bilde jedoch die konkrete Pflegekraft den Schwerpunkt der Ermittlung. Die Folge: Nur in Ausnahmefällen wagen sich die Pflegekräfte an die Öffentlichkeit oder die Heimaufsicht, sind sie doch diejenigen, denen im Zweifelsfall die juristische Verantwortung zugeschoben wird.

Behörden können wenig ausrichten

Selbst für den Fall, dass doch mal Fälle unterbesetzter Heime zu öffentlichen Skandalen eskalieren, können die Aufsichtsbehörden nur wenig ausrichten. Oder wollen es nicht. Beim MDK heißt es auf Nachfrage, die Schließung eines Seniorenstifts beziehungsweise die Vertragskündigung durch die Pflegekassen versuche man nach Möglichkeit zu vermeiden - gerade bei großen Häusern. Schließlich sei es nur schwer möglich, von heute auf morgen neue Plätze für 100 neue Heimbewohner zu finden. Auch sei die psychische und körperliche Belastung eines Umzugs für die alten Menschen nicht zu unterschätzen, das Heim sei schließlich ihr Zuhause.

Und selbst wenn einmal ein Heim zwangsgeschlossen wird - dann geht der Betrieb oft unter einem neuen Namen weiter. Im Fall Mainz-Finthen etwa kündigten die Pflegekassen nach dem Bekanntwerden der Missstände den Vertrag. Heute gibt es das Heim noch, nur heißt der Betreiber heute Pro Vita - eine hundertprozentige Tochter von Casa Reha. Dass so etwas möglich ist, liege am gesetzlich garantierten Zulassungsanspruch, der den Pflegekassen kaum die Möglichkeit lasse, Betreibern einen Versorgungsvertrag auszuschlagen, erklärt AOK-Experte Schkölziger. "Das ist eine Lücke in unserem Pflegesystem und äußerst problematisch."

Pflegerin Ines Weber arbeitet heute bei einem ambulanten Dienst. "Noch ein Pflegeheim konnte ich mir nicht mehr geben nach dieser Erfahrung", sagt sie. Ihr Kollege Markus Anzbach ist derzeit auf der Suche nach einer neuen Arbeit in einer Seniorenresidenz. Allerdings am liebsten bei einem kirchlichen Träger, sagt er. "Ein privater Betreiber als Arbeitgeber kommt bei mir erst mal nicht mehr infrage."

Quelle: http://www.welt.de/wirtschaft/ - Mit freundl. Genehmigung der Autorin Anette Duwideit



KOMMENTAR:
Die Autorin beschreibt in Ihrem Bericht die leider sich weiter zuspitzende Situation in Deutschlands Pflegeheimen. Ihr gebührt großer Respekt für diesen mutigen Artikel, der dabei deutlich Ross und Reiter nennt!

Wie recht sie hat und dass der "Pflegenotstand" leider nicht neu ist, lesen Sie u.a. auch hier:
[UN kritisiert Missstände in deutschen Pflegeheimen >>]
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was wir nicht tun" (Jean Molière)
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« am: 06. Oktober 2011, 01:03 »

Zitat: Welt am Sonntag

Jedes fünfte Altenheim betrügt seine Bewohner

Autorin: Anette Dowideit | 02.10.2011

Mehr als zwei Millionen Deutsche sind pflegebedürftig, rund ein Drittel davon lebt in Pflegeeinrichtungen. Die Bedingungen dort sind oft sehr schlecht: Mindestens jedes fünfte Altenheim in Deutschland betrügt seine Bewohner und die Pflegekassen, weil es weniger Altenpfleger beschäftigt als nötig wären. Das geht aus einer Recherche der "Welt am Sonntag" hervor, für die wir verschiedene Heimaufsichten auf Landes- und Kommunalebene befragt haben. In Hessen, dem Bundesland, das über die am besten zentral dokumentierte Erfassung der Daten verfügt, verstieß im vergangenen Jahr sogar jedes vierte Heim gegen die gesetzlichen Vorgaben und strich die eingesparten Löhne als Gewinne ein.

Die Spitzen der Sozialverbände und führende Pflegeexperten im Bundestag kritisieren die derzeitigen Kontrollen als zu lasch. "Dort, wo tatsächlich gefährliche Pflege stattfindet, muss durch die Aufsichten entschlossen gehandelt werden. Dann darf auch eine Schließung einer wiederholt auffälligen Einrichtung kein Tabu sein", sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, der "Welt am Sonntag". Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der Union, sagte, die Aufsicht sei nicht grundsätzlich zu nachsichtig, "sie setzt aber nicht selten die falschen Schwerpunkte".

Bisher drohen den Heimbetreibern, die zu wenige Altenpfleger beschäftigen, in der Regel lediglich Verwarnungen oder Bußgelder. Nur in besonders drastischen Fällen, bei denen der Personalmangel bereits zur spürbaren Gefahr für die Bewohner, zu Unterernährung oder Misshandlungen geführt hat, verhängen die Behörden Belegungsstopps oder verfügen in wenigen Einzelfällen Schließungen. Die für Gesundheit und Soziales in der SPD-Bundestagsfraktion zuständige Abgeordnete Elke Ferner sagte, es dürfe nicht "als Kavaliersdelikt" abgetan werden, wenn Heime absichtlich zu wenige Pflegekräfte anstellten. "Wir können nur an die Heimaufsicht auf Landesebene appellieren, dass sie die gesetzlichen Möglichkeiten für Strafen ausschöpft."

Wie groß die Mängel im Pflegesystem sind, zeigen auch Daten des Spitzenverbandes des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherun (MDS). Nach Auskunft des MDS stellen die Prüfer bundesweit bei unangemeldeten Kontrollen in etwa jedem dritten Heim "Ernährungsprobleme" bei den Bewohnern fest, darunter Unterernährung oder Dehydrierung. In bis zu einem Viertel der Heime werden demnach Wunden nicht optimal versorgt. Dabei kosten viele Heimplätze mehr als 4000 Euro im Monat.

Das Bundesgesundheitsministerium mahnt ebenfalls strenge Kontrollen an: "Missstände sind in jedem Einzelfall schlimm und bedauerlich. Dahinter stehen immer menschliche Schicksale. Ich gehe davon aus, dass die zuständigen Länder mit ihren Aufsichten Missständen nachgehen", sagt Staatssekretär Thomas Ilka. Wichtig sei, dass in den Einrichtungen Transparenz und hohe Qualitätsstandards herrschten. Genau dies bezweifeln Branchenexperten.

Kritik am derzeitigen Stand der Qualitätskontrollen in Heimen kommt auch vom CDU-Bundestagsabgeordneten und Pflegeexperten Willi Zylajew. Er moniert, dass in Deutschland zur Abschreckung kein zentrales Register existiert, das erfasst, welcher Heimbetreiber wie oft auffällig geworden ist.

Quelle: http://www.welt.de/wirtschaft/ - Mit freundl. Genehmigung der Autorin Anette Duwideit
« Letzte Änderung: 12. Oktober 2011, 22:06 von admin » Gespeichert

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