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Autor Thema: Aricept 23: Pharmahersteller landen Marketing-Coup  (Gelesen 6168 mal)
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« am: 17. August 2012, 19:41 »

CORNELIA STOLZE

Kognitive Störungen bei der FDA

Mit einem raffinierten Schachzug und dank einer seltsamen Entscheidung derUS-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA ist es den Pharmafirmen Eisai und Pfizer gelungen, ihr Monopol auf den Kassenschlager „Aricept" für weitere Jahre zu retten. Den Unternehmen beschert der Coup mit dem umstrittenen Alzheimer-Medikament Milliardeneinnahmen - auf Kosten der Sicherheit und Gesundheit wehrloser Patienten. Über die Hintergründe des Falls berichten zwei Mediziner des Dartmouth Institute for Health Policy and Clinical Practice im British Medical Journal. Mit dem Artikel hat das BMJ kürzlich eine neue Serie von „Not So Stories" gestartet. Darin will das Fachblatt in loser Folge Beispiele für Übertreibungen, Irreführungen und einseitige Darstellungen von medizinischen Themen in Nachrichten, Werbekampagnen und Fachartikeln aufzeigen.

Wer einen Goldesel hat, der gibt ihn - verständlicherweise - nicht so leicht wieder her. Kein Wunder also, dass der japanische Arzneimittelhersteller Eisai guten Grund hatte, sich für sein Prachtexemplar „Aricept" schon frühzeitig etwas einfallen zu lassen: Seit der ersten Zulassung des Cholinesterase-Hemmers (Wirkstoff: Donepezil) 1996 hatte sich das Anti-Demenz-Medikament zum weltweiten Blockbuster entwickelt. Allein in den USA brachte der Verkauf von Donepezil dem Hersteller und seinem Co-Vermarkter Pfizer jährlich zwei Milliarden US-Dollar ein.

Zwar kamen 1998 mit Rivastigmin (Handelsname: Exelon) und 2001 mit Galantamin (Reminyl) zwei weitere Cholinesterase-Hemmer als Konkurrenz hinzu. Nach wie vor aber ist Aricept Marktführer im lukrativen Feld der Alzheimer-Therapie. Mehr als die Hälfte aller Verordnungen für Medikamente aus dieser Gruppe entfällt auf das Produkt von Eisai/Pfizer.

Auch in Deutschland, dem drittgrößten Pharmamarkt der Welt nach den USA und Japan, blüht das Geschäft. Allein für Aricept, das seit 2005 nicht nur in der ursprünglichen Version mit 5 Milligramm (mg) Donepezil, sondern auch in einer 10mg-Version verfügbar ist, geben die Krankenkassen hierzulande pro Jahr rund 100 Millionen Euro aus.

Doch eines stand von Anfang an fest: Schon bald wäre es mit dem Geldsegen vorbei. Denn das Patent auf Donepezil lief im November 2010 ab. Binnen kürzester Zeit würde Aricept damit „über die Klippe gehen", wie es in der Sprache der Investoren heißt. Sprich: Mit dem Wegfall der exklusiven Verkaufsrechte würden Eisai und Pfizer einen Großteil ihres Absatzes für immer an die Hersteller deutlich billigerer Nachahmerprodukte (Generika) verlieren.

Es sei denn, die Marketing-Strategen der Firmen würden sich rechtzeitig etwas einfallen lassen. Und Not, so weiß man, macht erfinderisch.

Nach dem Motto „viel hilft viel" entschieden Eisai und Pfizer daher direkt nach der Zulassung der 10 mg-Version von Donepezil, eine noch höhere Dosis von Aricept zu entwickeln. Die Idee dahinter sei gewesen, erklärte eine Sprecherin von Eisai, dass Patienten mit weiter fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit von einer höheren Dosis Aricept profitieren könnten.

Und siehe da, im Juli 2010 - vier Monate bevor Eisai seinen Patentschutz auf Aricept verloren hätte - erhielt das Unternehmen von der FDA die Zulassung für das höher dosierte Donepezil. Der Name des Mittels: „Aricept 23". Anders als die beiden bereits vorhandenen Präparate mit 5 mg beziehungsweise 10 mg Donepezil, enthält das „neue" Produkt nun 23 mg des Wirkstoffs.

Eine merkwürdige Dosierung? Nur auf den ersten Blick. Hinter der krummen Zahl steckt vielmehr eine pfiffige Taktik der Eisai-Manager, wie die Autoren des BMJ-Papers, Lisa Schwartz und Steven Woloshin, darlegen. Denn eine Dosierung von 23 mg pro Tag bekommt man nun einmal nicht durch die Kombination der (nun ja als  Generika verfügbaren) 5mg- und 10 mg-Präparate hin.

Wer als Arzt seinen Patienten die neu propagierte, höhere Dosierung verabreichen will, muss also zwangsläufig zum neuen Aricept 23 greifen. Und das wurde - dank der Zulassung der FDA - für weitere drei Jahre (bis 2013) patentrechtlich geschützt.

So offensichtlich der Taschenspieler-Trick von Eisai auch ist - mindestens ebenso erstaunlich ist das Gebaren der FDA. Denn zum einen ist der Nutzen von Cholesterinesterase-Hemmern nach wie vor stark umstritten. Fest steht nämlich: Aufhalten oder zumindest verzögern lässt sich das Leiden damit nicht. Nebenwirkungen aber haben die Mittel zweifelsfrei.

Zum anderen verstieß die FDA mit der Zulassung von Aricept 23 gegen ihre eigenen Regeln, wie Schwartz und Woloshin zeigen. Denn die Medikamentenstudie, mit der Eisai belegen sollte, dass die stärkere Dosis
von 23 mg Donepezil der herkömmlichen Menge von 10 mg überlegen sei, schlug fehl.

Vor Beginn der Untersuchung, an der mehr als 1.400 Probanden mit mittelschwerer bis schwerer Demenz teilnahmen, hatte die FDA gemeinsam mit Eisai festgelegt: Die höhere Dosierung würde nur dann eine Zulassung erhalten, wenn sich dadurch sowohl die geistige Leistung als auch der Gesamtzustand der Probanden signifikant verbesserte.

Doch der Praxistext zeigte, dass sich die geistige Leistung der Patienten mit Aricept 23, wenn überhaupt, nur minimal verbesserte. Fest steht jedoch: Den Gesamtzustand der Patienten verbesserte die höhere Dosis definitiv nicht. Im Gegenteil. Mit der Einnahme der stärkeren Pillen nahm vor allem die Anzahl gefährlicher Nebenwirkungen deutlich zu.

Seit langem weiß man, dass Cholinesterase-Hemmer keineswegs harmlos sind. Schon in niedriger Dosierung rufen sie zum Teil beträchtliche Nebenwirkungen hervor, darunter Inkontinenz, verlangsamter Pulsschlag, Müdigkeit, Erbrechen, Durchfall und Appetitlosigkeit, Schwindel, Halluzinationen, Verwirrtheit, Muskelkrämpfe, Gewichtsverlust und Kopfschmerzen.

Bei jenen Probanden, die 23 mg verabreicht bekamen, traten diese Effekte noch deutlich häufiger und stärker auf, wie die Studie von Eisai ergab. Allein die Anzahl der Fälle, in denen sich Patienten übergeben mussten, war  3,5 Mal höher als bei der Vergleichsgruppe mit 10 mg Donepezil. Was für manch einen jungen Menschen harmlos klingt ist gerade für Demenzkranke mitunter lebensgefährlich. Denn Erbrechen kann bei ihnen zu Lungenentzündung, massiven Magen-Darm-Blutungen, zum Riss der Speiseröhre und sogar zum Tod führen.

Für die Mediziner und Statistiker der FDA, die mit der Zulassungsprüfung betraut waren, war die Sache damit klar: Keine Zulassung für die höhere Dosis Donepezil. Auch ihr Chef, der Direktor der Abteilung für neurologische Produkte, Russel Katz, konstatierte, dass die Verabreichung der 23 mg Dosis im Vergleich zur 10 mg Dosis mit einem „klaren Anstieg in der Häufigkeit von Arzneimittelschäden" verbunden sei. Diese seien keine trivialen Ereignisse, so Katz weiter. Vielmehr könne das höher dosierte Präparat bei diesen Patienten zu „signifikanten Morbiditäten und sogar zu erhöhter Sterblichkeit" führen.

Aus ungeklärten Gründen widersprach sich Katz jedoch später selbst. Aus seiner Sicht, so der FDA-Funktionär, gebe es „starke Hinweise" darauf, dass die 23 mg Dosis sehr wahrscheinlich auch einen Effekt auf den Gesamtzustand der Patienten habe - auch wenn dies in der Studie nicht direkt gezeigt worden sei. Er „glaube", so Katz weiter, dass der Sponsor gezeigt habe, dass die 23 mg Dosierung von Aricept effektiv sei, und entschied kurzum: „Ich werde diesem Zulassungsantrag zustimmen".

Für Verbraucherschützer wie Sidney Wolfe von der US-Organisation Public Citizen ist das Votum von Katz „ein Schlag ins Gesicht" all jener Personen, die sehr viel mehr Zeit in die Prüfung dieses Medikaments gesteckt haben als ihr Chef.

Und nicht nur das. Gemeinsam mit einem renommierten Mediziner der Johns Hopkins University School of Medicine, dem Geriater Thomas Finucane, forderte Public Citizen die FDA auch in einer Petition auf, Aricept 23 umgehend vom Markt zu nehmen. Das Mittel bringe keinerlei klinische Verbesserung gegenüber der 10-mg-Dosierung. Gleichzeitig aber sei es deutlich toxischer.

Geändert hat sich bisher nichts. Russell Katz ist nach wie vor im Amt - und hält seine schützende Hand über Aricept. Selten, so Sidney Wolfe, sehe man eine so gefährliche Diskrepanz zwischen dem, was so gut wie jeder in der Neurologie-Abteilung der FDA denke und dem, was ihr Leiter denkt.

Tatsächlich ist die Rolle der FDA im Fall Aricept 23 auch in anderer Hinsicht dubios, wie Schwartz und Woloshin entdeckten. Denn bei Aricept 23 hat die FDA offenbar gleich mehrfach „übersehen", wie Eisai/Pfizer Betroffene und Ärzte mit übertriebenen Versprechen zum (vermeintlichen) Nutzen des Mittels in Anzeigen und Beipackzettel täuscht.

Denn kurz nach der Zulassung von Aricept 23 starteten Eisai und Pfizer eine groß angelegte Werbekampagne und setzten darin klar sichtbar falsche Informationen in die Welt. So verkündeten die Hersteller zum Beispiel im fett gedruckten Teil einer Anzeige, die sich an Mediziner richtete, dass „Patienten, die pro Tag 23 mg Aricept erhielten, wichtige klinische Verbesserungen in beiden Kriterien wahrnahmen (kognitive und Gesamtfunktion)".

Eine Aussage, die so offensichtlich irrig ist, dass es einem die Sprache verschlägt, konstatieren Schwartz und Woloshin. Bezeichnenderweise, so die Autoren des BMJ-Artikels, widersprechen sich die Marketingleute von Eisai/Pfizer sogar in ihrer eigenen Anzeige. Auf derselben Seite findet sich nämlich ein weiterer Text mit kleinerer, unauffälliger Schrift, aus dem hervorgeht, die Ergebnisse der Studie in puncto Gesamtfunktion „keine statistische Signifikanz gezeigt haben".

Paradoxerweise haben die Arzneimittelhersteller mit ihren überzogenen Lobpreisungen zu Aricept 23 nicht einmal gegen geltendes Recht verstoßen. Zu ihrem eigenen Entsetzen, berichten Schwartz und Woloshin, fand sich die falsche Aussage zum vermeintlich belegten Wirksamkeit der neuen Dosierung nämlich auch im Beipackzettel - und hatte damit den offiziellen Segen der FDA.

US-Regularien sehen nämlich vor, dass die Arzneimittelbehörde jeden Beipackzettel überprüfen und genehmigen muss, bevor der Hersteller sein Produkt auf den Markt bringen darf. Ziel dieser Maßnahme ist es eigentlich, sicherzustellen, dass Pharmafirmen in ihrer Werbung für Arzneimittel bei der Wahrheit bleiben - und Patienten und Konsumenten nicht in die Irre führen.

Der Haken daran ist nur: Der Text mit allen Verabreichungs- und Warnhinweisen wird nicht, wie häufig angenommen, von der FDA verfasst, sondern vom Produzenten des jeweiligen Präparats. Manch ein Hersteller wird dadurch dazu verführt, manche Unsicherheiten und Risiken ein wenig zu vertuschen, so Woloshin.

Im Fall Aricept 23 hat der Trick offenbar funktioniert. Erst durch einen Hinweis von Woloshin und Schwartz wurde die FDA auf den Fehler aufmerksam. Allzu betrübt reagierte der zuständige Funktionär Russel Katz jedoch nicht. Sein Team könne sich „nicht mehr erinnern", wie der entscheidende, fehlerhafte Satz den „durchgerutscht" sei. Man habe den Hersteller jedoch umgehend benachrichtigt und dieser habe sich gleich bereit erklärt, ihn aus dem Beipackzettel zu entfernen. „Wir sind immer daran interessiert, den Inhalt und die Klarheit unserer Arzneimittelkennzeichnung zu verbessern und
sind dankbar für jeglichen Hinweis auf irreführende oder ungenaue Aussagen", beteuerte Katz.

Die Folgen der irreführenden Versprechen zu Aricept 23 sind schwer abzuschätzen. Fest steht nur, dass der falsche Beipackzettel reichlich Zeit hatte, seine Wirkung auf alle wichtigen Zielgruppen wie Ärzte, Betroffene, Krankenversicherungen und Selbsthilfegruppen zu entfalten. Erst im März 2012 - mehr als anderthalb Jahre nach der Markteinführung von Aricept 23 - wurde der korrigierte Beipackzettel von der FDA freigegeben.

Das Management von Eisai ist sich keiner Schuld bewusst, wie Schwartz und Woloshin berichten. Als die beiden Forscher das Unternehmen kontaktierten, verwies man sie wiederholt auf die Genehmigung des (falschen Textes) durch die FDA.

Der Fall Aricept, resümieren Schwartz und Woloshin, sei sowohl enttäuschend als auch deprimierend. Natürlich sei Demenz ein schreckliches Leiden. „Das ist aber keine Entschuldigung dafür, schutzlose Patienten, verzweifelte Familienangehörige und deren Ärzte emotional so zu manipulieren, dass sie ein Medikament anwenden, das ihnen höchstwahrscheinlich mehr schadet als nützt."

Der Geriater Thomas Finucane stellt den Einsatz von Cholinesterase-Hemmer sogar generell in Frage. Die Mittel, so der Experte von der von der Johns Hopkins University School of Medicine, seien weniger aufgrund ihres klinischen Nutzens zu einem Multimilliarden-Erfolg geworden, sondern vor allem aus zwei anderen Gründen: „die verständliche Verzweiflung jener Menschen, die für Patienten mit der Alzheimer-Krankheit sorgen - und eine unerbittliche Werbekampagne durch Pharmafirmen".

Quelle: Cornelia Stolze - mit freundlicher Genehmigung, veröffentlicht unter http://www.berliner-aerzte.net/pdf/bae1208_025.pdf



Siehe auch "Vergiss Alzheimer" - Ist Alzheimer nur eine Erfindung?
« Letzte Änderung: 21. September 2012, 10:54 von admin » Gespeichert

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