INTERVIEWNeue, billige Arbeitskräfte in der Pflege?Am 1. Januar 2015 ist das erste Pflegestärkungsgesetz der Bundesregierung in Kraft getreten. Kernpunkt: Die Finanzierung von 20.000 Betreuungskräften in der Pflege. Was sagt Reinhard Leopold, Gründer der
Bremer Angehörigen-Initiative "Heim-Mitwirkung" zu dem Plan der Politik, damit die Lebenssituationen in Pflegeheimen zu verbessern? Im Interview mit NDR.de äußert Leopold nicht nur erhebliche Zweifel, dass Betreuungskräfte die Situation in den Pflegeeinrichtungen verbessern werden, sondern befürchtet am Ende sogar einen Rückgang ausgebildeter Fachkräfte in der Pflege. Denn die Laien-Kräfte könnten aus Kostengründen für pflegerische Aufgaben eingesetzt werden - für die sie aber gar nicht ausgebildet sind.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) verkauft die 20.000 Betreuungskräfte, die er auf Grundlage des ersten Pflegestärkungsgesetzes finanzieren will, als großen Wurf. Halten Sie es für realistisch, dass ihr Einsatz die Situation in den Pflegeeinrichtungen verbessert? Leopold: Ich kenne niemanden, der etwas gegen zusätzliche Kräfte in den Pflegeheimen hat. Es gibt aber Hinweise, dass die zusätzlichen Betreuungskräfte bereits heute teils für andere Aufgaben als Vorlesen, Spazierengehen und so weiter missbraucht werden, wie beispielsweise Nahrung anreichen, Hilfe bei Toilettengängen und der Pflege. Die Aufgaben sind aber eigentlich eindeutig in den "Richtlinien nach § 87b Abs.3 SGB XI" des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenkassen geregelt.
Betreuungskräfte müssen zwar ihre Tätigkeit dokumentieren, aber bekanntermaßen ist Papier geduldig. Das ist praktisch auch nicht kontrollierbar, solange niemand den missbräuchlichen Einsatz von Betreuungskräften anzeigt. Von den Betreuungskräften selbst ist dies sicher nicht zu erwarten, sonst sind sie ihren Job los. Angehörige oder andere Personen, die in Heimen ein- und ausgehen, können meist nicht zwischen Pflege- und Betreuungskräften unterscheiden. Außerdem sind Außenstehende nicht immer da, wenn die zusätzliche Betreuung angeboten wird. Und auch die eigentlichen Aufgaben der Betreuungskräfte kennen die wenigsten Menschen.
Pessimisten befürchten, dass künftig noch weniger Fach-Pflegekräfte als heute zum Einsatz kommen. Gute Pflege-Qualität braucht dagegen mehr Menschen, Sozialkompetenz und Professionalität.
Woher sollen die Betreuungskräfte kommen und wie werden sie ausgebildet?
Leopold: Diese Frage sollten Sie Bundesgesundheitsminister Gröhe stellen. Es ist mir schleierhaft, woher er die 20.000 zusätzlichen Betreuungskräfte nehmen will. Bei den derzeitigen Arbeitsbedingungen in der Pflege, der geringen Bezahlung und Wertschätzung durch die Arbeitgeber wird es vermutlich sehr schwer sein, so viele Menschen für diese Tätigkeit zu begeistern.
Was für eine Ausbildung beziehungsweise welche Fähigkeiten muss eine Pflegekraft haben, damit sie eine wirkliche Fachkraft ist?
Leopold: Die aus meiner Sicht wichtigste Voraussetzung für diesen sehr anspruchsvollen Beruf ist eine besonders ausgeprägte Sozialkompetenz, besonderes Einfühlungsvermögen, hohe Teamfähigkeit und höchste Stress-Resistenz.
Die Berufsausbildung selbst ist im
Altenpflegegesetz des Bundes geregelt. Details dazu sind, wie bei anderen Berufen auch, in der
Ausbildungs- und Prüfungsverordnung geregelt. In den einzelnen Bundesländern gibt es dazu
unterschiedliche Durchführungsbestimmungen.
Sind die Fachkräfte in der Pflege ausreichend ausgebildet und auf die Entwicklungen der kommenden Jahre vorbereitet?
Leopold: Aufgrund des höheren Durchschnittsalters und Multimorbidität [gleichzeitiges Auftreten mehrerer Erkrankungen, Anm. d. Red.] der Heimbewohner sind die Ansprüche an Pflege-Kompetenz immer weiter gestiegen. Die Altenheime von früher, wo noch relativ rüstige alte Menschen freiwillig hingingen, gibt es praktisch nicht mehr. Es sind inzwischen Pflege- und Sterbeheime, in denen unter anderem auch sogenanntes final-pflegerisches Wissen gefordert ist.
Ein neues Pflegeberufegesetz ist inzwischen in Arbeit und soll anstelle der bislang getrennten Ausbildungen in der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege eine einheitliche
generalistische Pflegeausbildung in Deutschland regeln. Damit soll auch ein einheitlicher Ausbildungsstand in Europa erreicht werden. Diverse
Anbieterverbände wehren sich allerdings dagegen. Es bleibt abzuwarten und ist spannend, ob sich auch hier mal wieder die Anbieter-Lobby durchsetzen kann und die Politik einknicken wird.
Der vierte Pflege-Qualitätsbericht, der gerade vorgestellt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass sich die "Pflegequalität in Heimen und durch Pflegedienste verbessert hat". In den Berichten der vergangenen Jahre waren noch gravierende Mängel festgestellt worden. Wenn zum Beispiel jetzt tatsächlich weniger Heimbewohner fixiert werden, ist das doch schon mal ein Erfolg, oder? Wie ist der Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) und des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) Ihrer Meinung nach zu bewerten?
Leopold: Verbesserungen zu loben, ist sicher richtig. Der Bericht macht vor allem aber deutlich, dass insbesondere bei Dekubitusprophylaxe [Dekubitus = Wundliegen, Anm. d. Red.], Wundversorgung, Schmerzmanagement, Medikamentengabe und so weiter noch viel mehr getan werden muss. Die MDK-Prüfberichte und "Pflege-Noten" werden von verschiedenen Seiten immer noch kritisiert, weil sie die Realität in der Pflege nicht wirklich widerspiegeln. Noch leiden täglich viel zu viele pflegebedürftige Menschen unter den jetzigen Bedingungen, unter denen sie versorgt werden.
NDR.de: Das zweite Pflegestärkungsgesetz sieht vor, dass nicht mehr zwischen körperlich und kognitiv oder psychisch eingeschränkten Menschen unterschieden wird. Ist das das nicht ein großer Fortschritt?
Leopold: Zunächst muss festgestellt werden, dass es eine Schande ist, wenn die Politik erst jetzt darauf kommt, dass es nicht auf die Unterscheidung der Erkrankung ankommt, sondern auf den individuellen Bedarf des einzelnen pflegebedürftigen Menschen. 'Im Zentrum steht der individuelle Unterstützungsbedarf jedes Einzelnen', das soll nun endlich nach Aussage des Bundesgesundheitsministers künftig gelten. Ich bin sehr gespannt, ob das tatsächlich in der Form umgesetzt wird. Ich bin da sehr skeptisch.
Was müsste auf der Gesetzgebungsebene dringend passieren, um die Pflege in Deutschland zu verbessern?
Leopold: Wir benötigen mehr Pflege-Fachkräfte. Das ist eine Tatsache. Zudem muss der Beruf der Pflegekraft deutlich attraktiver werden. Dazu gehören menschenwürdige Arbeitsbedingungen, Festanstellung, attraktive Entlohnung und interessante Aufstiegsmöglichkeiten. Die Politik kann die gesetzlichen Rahmenbedingungen für menschenwürdige Pflege schaffen. Die Anbieter sind letztlich für die menschenwürdige Umsetzung verantwortlich. Anstatt immer mehr Geld ins System zu pumpen, muss für Finanz-Transparenz gesorgt werden. Es muss garantiert werden, dass das viele Geld tatsächlich dafür ausgegeben wird, wofür es ursprünglich geplant war. Menschenwürde vor Rendite- und Gewinnmaximierung!
Darüber hinaus ist deutlich mehr Aufklärung der Bevölkerung über Grundlagen, Gesetze und Verordnungen im Pflegebereich notwendig. Kaum jemand weiß, dass es in Deutschland in jedem Bundesland ein unterschiedliches Heimgesetz und dazugehörige Durchführungsverordnungen gibt. Hinzu kommt, dass in den einzelnen Bundesländern die Gesetze, Verordnungen und Aufsichtsbehörden auch noch andere Namen und Bezeichnungen haben. Transparenz? Fehlanzeige!
Nicht ohne Grund haben der Münchener Rechtsanwalt Alexander Frey im Januar 2014 und der Sozialverband VdK Ende vergangenen Jahres Verfassungsbeschwerde wegen des andauernden Pflegenotstands beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Man darf gespannt sein, wie die Richter urteilen werden.
Das Interview führte Ulla Brauer, 45 Min.Quelle: http://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Neue-billige-Arbeitskraefte-in-der-Pflege,pflege450.html